Experimentelle Statistiken Machbarkeitsstudie Gesamtwirtschaftlicher Frühindikator

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Gesamtwirtschaftliche Frühindikatoren im Spannungsfeld zwischen Aktualität und Genauigkeit

Seit Juli 2020 veröffentlicht das Statistische Bundesamt seine erste Schätzung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bereits 30 Tage nach Quartalsende als sogenannten Flash Estimate. Vorausgegangen waren umfangreiche Tests zur Qualitätssicherung, vor allem um die Einhaltung der europäischen Qualitätskriterien zu prüfen. Damit kam das Statistische Bundesamt dem langjährigen Nutzerwunsch nach schneller verfügbaren, aber dennoch verlässlichen BIP-Ergebnissen nach. Auf Bitte von Eurostat hatte das Statistische Bundesamt bereits ab 2016 diesen Flash-Estimate zur Ermittlung des "Preliminary Flash Estimate" für die Europäische Union (EU) und die Eurozone zugeliefert.

Mit der voranschreitenden Digitalisierung ergeben sich neue Möglichkeiten und das Nutzerinteresse an hoch aktuellen und gleichzeitig verlässlichen Daten nimmt weiter zu. Dabei stehen gerade belastbare Daten zur aktuellen konjunkturellen Entwicklung in Deutschland häufig im Fokus des öffentlichen Interesses. Die Erhebung amtlicher Basisdaten und deren Aufbereitung zu amtlichen Konjunkturindikatoren nimmt jedoch Zeit in Anspruch. Die erste Berechnung eines gesamtwirtschaftlichen Konjunkturindikators beinhaltet daher in der Regel einen Schätzanteil, da zu entsprechend frühen Veröffentlichungszeitpunkten noch nicht alle Basisdaten zur Verfügung stehen. Je früher ein gesamtwirtschaftlicher Konjunkturindikator berechnet werden soll, desto größer ist der Anteil an Daten, der geschätzt werden muss.

Um die Möglichkeiten einer noch schnelleren und dennoch verlässlichen Schätzung der Entwicklung des BIP auszuloten, startete das Statistische Bundesamt 2018 eine Machbarkeitsstudie, mit dem Ziel bereits 10 Tage nach Quartalsende einen gesamtwirtschaftlichen Frühindikator zu ermitteln.

Prognose, Nowcast, Flash Estimate - was ist was?

Die frühe Schätzung einer wirtschaftlichen Kennziffer lässt sich, je nach Zeitpunkt, zu dem sie durchgeführt wird, als Prognose, Nowcast oder Flash Estimate bezeichnen:

Prognose
Prognosen geben Erwartungen von zukünftigen Entwicklungen wieder. Sie werden also vor der Berichtsperiode oder zumindest deutlich vor Ende der Berichtsperiode abgegeben.

Nowcast
Ein Nowcast (engl. von "now" für "jetzt" und "forecast" für "Prognose") ist eine sehr frühe Schätzung noch während oder kurz nach Ablauf einer Berichtsperiode.

Flash Estimate
Ein Flash Estimate (englisch für Blitzschätzung) wird üblicherweise erst eine gewisse Zeit nach Ablauf einer Berichtsperiode berechnet.

Für einen Nowcast bzw. Flash Estimate liegen bereits erste amtliche Basisdaten für die entsprechende Berichtsperiode vor. Zusammenfassend lassen sich die beiden auch als Schnellschätzung bezeichnen. Der notwendige Schätzanteil bei einem Nowcast ist dabei höher als bei einem Flash Estimate.

Die zeitlichen Übergänge zwischen Prognose, Nowcast, Flash Estimate und Berechnung sind fließend. Während die Aktualität beim Übergang von Prognose über Nowcast und Flash Estimate hin zur Berechnung abnimmt, nimmt die Genauigkeit im Zeitverlauf typischerweise zu. Die nachfolgende Grafik illustriert die oben genannten Begriffe, ihre zeitliche Abfolge und das Spannungsfeld zwischen Aktualität und Genauigkeit. Dabei bezeichnet "t" das Ende einer beliebigen Berichtsperiode.

Machbarkeitsstudie zum BIP Nowcast als gesamtwirtschaftlicher Frühindikator

Entsprechend der obigen Begriffsunterscheidung lässt sich ein gesamtwirtschaftlicher Frühindikator 10 Tage nach Ende eines Quartals als Nowcast bezeichnen. Der Aufbau dieses BIP Nowcast orientierte sich an der Struktur der deutschen BIP Berechnung, allerdings handelt es sich - anders als beim BIP-Flash - beim BIP Nowcast um eine rein modellgestützte Schätzung auf ökonometrischer Basis. Die Einbindung der VGR-Experten war nicht vorgesehen.

Gegenstand der Untersuchungen war zunächst der Aufbau eines ökonometrischen Modells für die Entstehungsseite des BIP. Hierzu wurde das entstehungsseitige ökonometrische Modell des BIP Flash Estimate an die besondere Datenlage 10 Tage nach Quartalsende angepasst und methodisch weiterentwickelt. Die Ergebnisse dieser ersten Projektphase wurden in einem WISTA-Aufsatz veröffentlicht. In einem zweiten Schritt wurde auch ein ökonometrisches Modell zur Schätzung der Verwendungsseite des BIP nach 10 Tagen aufgebaut. Darüber hinaus wurden neue Datenquellen einbezogen, neue Methoden getestet (z.B. dynamische Faktormodelle und Methoden des Machine Learning) und die bestehenden Schätzmodelle methodisch weiterentwickelt (z.B. verbesserte Modellierung von Saisonmustern durch RJDemetra). Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf den aus entstehungs- und verwendungsseitigem Modell gewichteten BIP Nowcast.

Im Unterschied zum BIP Flash Estimate stehen nach 10 Tagen weniger amtliche Basisdaten zur Verfügung. Im Rahmen der Machbarkeitsstudie wurden deshalb zahlreiche amtliche und nicht-amtliche Konjunkturindikatoren auf ihre Eignung für die ökonometrische Schnellschätzung getestet. Dazu gehören vor allem Stimmungs- und Umfrageindikatoren sowie Indikatoren auf Basis neuer digitaler Daten.

Ein wichtiger Ansatz für die Qualitätsbeurteilung des BIP Nowcast stellte das sogenannte Backtesting dar, also die Qualitätsbeurteilung der Regressionsmodelle anhand historischer Datenstände. Mit diesem Ansatz kann mittels Rück-Testrechnungen überprüft werden, wie gut das ökonometrische Modell die Ergebnisse vergangener Quartale getroffen hätte. Der Datensatz wurde daher in einen Trainings- und einen Testdatensatz unterteilt. Mit dem Trainingsdatensatz, der den Zeitraum vom ersten Quartal 1994 bis zum vierten Quartal 2015 umfasst, wurde das ökonometrische Modell (in-sample) angepasst bzw. kalibriert. Anhand des Testdatensatzes und der Echtzeitdaten, die den Zeitraum vom ersten Quartal 2016 bis zum zweiten Quartal 2019 umfassen, wurde die Qualität des ökonometrischen Modells (out-of-sample) beurteilt. Ab dem dritten Quartal 2019 wurde der BIP Nowcast im laufenden Betrieb weiterentwickelt.

Eine ausführliche Analyse zu Datengrundlage, Methodik und Qualität des BIP Nowcast finden Sie hier.

Beurteilung der Qualität des BIP Nowcast

Um ein Bild von der Qualität der Ergebnisse des BIP Nowcast zu erhalten, wurden diese mit den Ergebnissen des BIP Flash Estimate verglichen. Beim Vergleich der Revisionsmaße des BIP Nowcast mit den Revisionsmaßen des BIP Flash Estimate zeigte sich, dass der BIP Flash Estimate insgesamt deutlich besser abschneidet als die frühe rein ökonometrische Schätzung nach 10 Tagen. Die mittlere Revision (MR) sowie die mittlere absolute Revision (MAR) des BIP Flash Estimate, bezogen auf die erste detaillierte BIP-Berechnung nach t+55 Tagen, fielen besser aus als die entsprechenden Revisionsmaße des BIP Nowcast. Damit erfüllte der BIP Flash Estimate die entsprechende Qualitätsanforderung von Eurostat (MR von maximal +/- 0,05 Prozentpunkten und MAR von maximal 0,1 Prozentpunkten), der BIP Nowcast dagegen nicht.

Der Unterschied in der Genauigkeit der Ergebnisse zeigte sich besonders deutlich während der Corona-Pandemie. In allen vier Quartalen des Jahres 2020 erzielte der auf einer Kombination von Expertenschätzung und ökonometrischer Schätzung basierende BIP Flash Estimate deutlich präzisere Ergebnisse als der BIP Nowcast.

Der Qualitätsunterschied zwischen den Ergebnissen des BIP Nowcast und des BIP Flash Estimate spiegelt den Zielkonflikt zwischen Aktualität und Genauigkeit wider. Je früher eine Schätzung durchgeführt wird, desto weniger amtliche Basisdaten stehen zur Verfügung. Hierdurch steigt der Schätzanteil, der durch die ökonometrische bzw. Expertenschätzung abgedeckt werden muss. Der hohe Schätzanteil verstärkt die Revisionsanfälligkeit der früheren Ergebnisse im Vergleich zur späteren detaillierten Berechnung. Entsprechend hoch ist das Risiko von Revisionen der beschleunigten BIP Nowcast im Vergleich zu den Schnellschätzungen nach 30 Tagen. Darüber hinaus zeigte die Corona-Pandemie die grundsätzliche Problematik ökonometrischer bzw. zeitreihenanalytischer Verfahren, plötzlich eintretende Krisen akkurat abzubilden.

Die folgende Grafik zeigt die Schätzergebnisse des BIP Nowcast für den Analysezeitraum der Machbarkeitsstudie vom ersten Quartal 2016 bis zum vierten Quartal 2020. Diese wurden für den Zeitraum vom ersten Quartal 2016 bis zum zweiten Quartal 2019, soweit vorhanden, auf Basis historischer Echtzeitdaten berechnet. Für diesen Zeitraum stellen sie also simulierte Schätzergebnisse auf Basis historischer Datenstände dar. Die Ergebnisse ab dem dritten Quartal 2019 wurden dann im laufenden Betrieb erstellt. Die Daten der Grafik verstehen sich als Veränderungsraten in Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Zum Vergleich sind auch die entsprechenden Veränderungsraten des BIP Flash Estimate und der nach 55 Tagen veröffentlichten BIP-Ergebnisse mit angegeben.

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Fazit der Machbarkeitsstudie

Aufgrund der bisher nicht erfüllten europäischen Qualitätskriterien sowie während der Corona-Pandemie verschlechterten Qualität der Ergebnisse des BIP Nowcast kommt das Statistische Bundesamt nach der zweijährigen Machbarkeitsstudie zu dem Schluss, dass eine Schnellschätzung des BIP zu diesem frühen Zeitpunkt derzeit keine Alternative zum praktizierten Verfahren des BIP Flash Estimate nach 30 Tagen ist und auch nicht veröffentlicht werden sollte. Fraglich ist darüber hinaus, ob es Aufgabe des Statistischen Bundesamtes ist, eine überwiegend ökonometrische Schätzung des BIP zu veröffentlichen. Daher wird die obige Grafik mit den Schätzergebnissen des BIP Nowcast nach dem vierten Quartal 2020 nicht weiter aktualisiert. Allerdings konnten durch die Machbarkeitsstudie wertvolle Erfahrungen für die Verbesserung des BIP Flash Estimate im Bereich der Schätzmethodik sowie der verwendeten Konjunkturindikatoren gewonnen werden. So fanden durch die Machbarkeitsstudie neu erschlossene Datenquellen Eingang in die Schnellschätzung des BIP nach 30 Tagen. Derzeit laufende Projekte des Statistischen Bundesamts zur Verwendung von Scanner-, Satelliten-, Mobilitäts-, Finanztransaktions- und Transportdaten könnten die BIP-Schnellschätzung perspektivisch insgesamt weiter voranbringen und deren Qualität weiter verbessern.

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