Experimentelle Statistiken Konjunkturfrühindikator auf Basis von Passantenfrequenzen

EXSTAT

Stand: 17. Januar 2024

Darstellung der Methodik eines Indikators für Passantenfrequenzen als möglicher Frühindikator für die konjunkturelle Entwicklung im Einzelhandel

1 Inputdaten

Es gibt einen naheliegenden, theoretischen Zusammenhang zwischen der Zahl der Passanten in Innenstädten und der Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes. Zugleich sind Daten zu den Passantenfrequenzen täglich abrufbar, während die Zahlen zum Einzelhandel etwa 30 Tage nach Ende des Berichtsmonats aktualisiert werden. Daher bezieht das Statistische Bundesamt im Rahmen der Erforschung neuer digitaler Daten Passantenfrequenzdaten des Unternehmens hystreet.com GmbH (kurz Hystreet). Ziel ist es, einen Konjunkturfrühindikator für den Einzelhandel zu erforschen und gegebenenfalls zu etablieren, um die konjunkturelle Entwicklung am aktuellen Rand in diesem Bereich früher abschätzen zu können.

Das Unternehmen erfasst die Passantenzahlen in ausgewählten deutschen Innenstädten mittels Laserscanner, die in der Regel an Häuserfassaden auf hochfrequentierten Einkaufsstraßen angebracht werden. Die Geräte legen dabei einen sogenannten Lichtvorhang über die Breite der Straße. Dadurch werden in beide Richtungen durchschreitende Personen ab einer Körpergröße von 90 Zentimetern gezählt. Personenbezogene Daten werden hierbei nicht erfasst. Die Messung geschieht datenschutzrechtlich unbedenklich sowie augensicher und unsichtbar rund um die Uhr an allen Tagen der Woche. Die Messgenauigkeit liegt laut Angaben des Laser-Herstellers bei 99 Prozent (bei einem Durchfluss von bis zu 500 Personen pro Minute). Durch Nachtragungen von Laserausfällen sind geringe Revisionen möglich (siehe: https://hystreet.com/methodology).

Das Statistische Bundesamt nutzt Passantenfrequenzen der folgenden 21 Städte: Köln, Frankfurt am Main, München, Hamburg, Berlin, Stuttgart, Wiesbaden, Rostock, Hannover, Düsseldorf, Mainz, Saarbrücken, Dresden, Kiel, Erfurt, Bremen, Halle (Saale), Leipzig, Dortmund, Essen und Nürnberg. Darunter sind, gemessen an der Einwohnerzahl, die fünf größten deutschen Städte. Zusätzlich ist sichergestellt, dass es in fast jedem Bundesland (mit Ausnahme von Brandenburg) eine Zählstelle gibt. Die Auswahl erfolgte entweder nach der Landeshauptstadt oder nach der größten Stadt im Bundesland. Für jede Stadt gibt es genau eine Zählstelle in der Innenstadt oder Fußgängerzone. Die Zeitreihen der ältesten Standorte beginnen im Mai 2018, jüngere Standorte starten ab dem Tag der Laser-Installation. Die Daten können mit einem Zeitverzug von einem Tag abgerufen werden und liegen damit deutlich schneller vor als amtliche Ergebnisse zum Einzelhandel.

2 Indexberechnung

Mit der Berechnung eines Index aus den Passantenfrequenzen sollen konjunkturelle Bewegungen aufgezeigt und saisonale Schwankungen herausgerechnet werden. Zunächst erfolgt die Berechnung eines täglichen Index, der die Entwicklung der Passantenzahlen nachzeichnen soll, jedoch nicht durch Ausfälle oder neue Zählstellen beeinflusst ist. Anschließend wird eine tägliche Saisonbereinigung durchgeführt. Bisher ist eine monatliche Saisonbereinigung nicht möglich, da die Zeitreihe durch die Pandemie geprägt ist und so keine eindeutigen Saisoneffekte identifiziert werden konnten.

Die Absolutwerte über die gesamte Zeitreihe sind eine gewichtete Summe der Passantenfrequenzen in einer Stadt, also der Zahl der Querungen einer Zählstelle. Die Gewichtung richtet sich nach der Bevölkerungsgröße der jeweiligen Stadt im Jahr 2021.

Bei 12 der 21 Städte begann die Messung im Mai 2018. Für zwei Städte begann die Messung später im Jahr 2018, aufgrund des schrittweisen Ausbaus der Zählstellen durch Hystreet; bei fünf Städten im Jahr 2019 und bei zwei Städten erst im Jahr 2020. Das Gewicht dieser Städte wird bis zum Zeitpunkt ihrer Einbeziehung auf 0 gesetzt.

Im Falle eines Laserausfalls, zum Beispiel durch einen technischen Defekt oder Baustellen, wird das Gewicht dieser Stadt auf 0 gesetzt. Über alle Städte hinweg gab es im Schnitt bei rund 4 % aller täglichen Messungen an den 21 Zählstellen von Mai 2018 bis November 2023 einen Laserausfall.

Zur Berechnung des Index wird die aktuelle gewichtete mittlere Passantenfrequenz ins Verhältnis zum Durchschnitt der gewichteten Passantenfrequenzen im Jahr 2021 gesetzt.

Abb. 1

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3 Saisonbereinigung

Die Kalender- und Saisonbereinigung der täglichen Passantenfrequenzdaten nutzt das in Ollech (2021) entwickelte DSA-Verfahren. Dieses Verfahren kombiniert ein RegARIMA-Modell zur Schätzung von Kalender- und Ausreißereffekten mit iterativen Durchläufen der Saisonbe­reinigungsmethode STL (vgl. Cleveland et al., 1990), sodass auf diese Weise die – unten dargestellten – periodischen Effekte geschätzt und bereinigt werden.

Die Bereinigung einer täglichen Zeitreihe mit Hilfe von DSA erfolgt in vier Schritten. Zunächst werden mit Hilfe des STL-Algorithmus wöchentlich wiederkehrende Schwankungen aus der Zeitreihe entfernt. Im Fall der Passantenfrequenzdaten sind beispielsweise markante Spitzen an Samstagen, gefolgt von deutlichen Einbrüchen an Sonntagen zu beobachten.

Im zweiten Schritt werden im Rahmen einer RegARIMA-Schätzung Kalender- und Ausreißereffekte ermittelt und entfernt. Zu den kalendarischen Effekten zählen insbesondere bewegliche Feiertage und die damit verbundenen Brückentage. So ist das Passantenaufkommen am Oster- oder Pfingstmontag ceteris paribus um fast 60 % geringer als an einem durchschnittlichen anderen Tag. Fronleichnam, welcher im Gegensatz zu Ostern oder Pfingsten nur in Teilen Deutschlands ein gesetzlicher Feiertag ist, führt hingegen lediglich zu einem Rückgang um rund 27 %. Ähnlich verhält es sich mit dem Brückentag zu Allerheiligen.

Beispiele für Ausreißereffekte sind im Fall der Passantendaten, wie auch bei vielen anderen Zeitreihen, der Beginn der Corona-Lockdowns im März und Dezember 2020. Bei den Passantenfrequenzen ist zum Beginn des ersten Lockdowns ein Einbruch von über 70 % zu beobachten. Solche Ausreißereffekte werden nicht final aus der Zeitreihe herausgerechnet. Vielmehr erfolgt ihre Identifikation und Ersetzung nur als ein Zwischenschritt mit dem Ziel, die Schätzung der Kalender- und Saisonkomponenten nicht durch solche starken und untypischen Fälle zu verzerren. Der Corona-Effekt bleibt somit in den finalen bereinigten Angaben voll sichtbar.

In einem dritten Schritt bereinigt die DSA-Prozedur – falls in der Zeitreihe identifizierbar – innermonatliche Schwankungen und in einem vierten Schritt schließlich jährlich wiederkehrende Effekte. Vermutete höhere Passantenaufkommen zum Monatswechsel oder in der Adventszeit konnten aber in der Reihe nicht nachgewiesen werden. Entsprechend wird auf die Bereinigung von monatlich und jährlich wiederkehrenden Einflüssen verzichtet.

Die Bereinigung der Passantenfrequenzdaten unterliegt besonderen Schwierigkeiten. Zunächst ist die Zeitreihe der Passanten mit einem Datenbeginn im Mai 2018 sehr kurz. Bei einer möglichen Bereinigung des Tag-des-Jahres-Effektes stünden hier also gerade einmal bis zu sechs Beobachtungen für jeden einzelnen Tag zur Verfügung. Obendrein unterliegen die Daten im Beobachtungszeitraum aufgrund der Corona-Pandemie erheblichen Strukturbrüchen. Zunächst kommt es insbesondere während der Lockdowns zu mehreren Niveauverschiebungen. Diese können jedoch in der Regel mithilfe sogenannter Level Shifts modelliert werden. Eine größere Herausforderung stellen hingegen abrupte Änderungen des Saisonmusters dar. So wäre es durchaus möglich, dass sich der datengenerierende Prozess der Passantenfrequenz in drei Regime unterteilt: die Zeit vor, während und nach der Pandemie. Im "Neuen Normal" könnten flexiblere Arbeitsmodelle und mehr Heimarbeit für viele Menschen bedeuten, dass sie unter der Woche Innenstädte in anderem Ausmaß frequentieren als vor der Pandemie. Allerdings zeigen grafische Analysen, dass derartige Veränderungen des Saisonmusters nur in geringem Umfang stattgefunden haben. Wie anhand des grafischen Verlaufs der bereinigten Angaben zu erkennen, ist das DSA-Verfahren flexibel genug, um graduelle Veränderungen im Saisonmuster adäquat und ohne verbleibende saisonale Spitzen zu bereinigen.

4 Interpretation der Ergebnisse

4.1 Gegenüberstellung von Passantenfrequenzen und Einzelhandelsentwicklung

Nachfolgend wird der Zusammenhang zwischen den Entwicklungen von Passantenfrequenzen und Einzelhandel untersucht.

Der Passantenfrequenzindex könnte als Frühindikator oder zur Interpretation der stationären Einzelhandelsentwicklung genutzt werden. Denkbar ist auch die Verwendung des Index zur Interpretation der amtlichen Ergebnisse: Durch die Gegenüberstellung mit den Passantenfrequenzen könnte die Einzelhandelsentwicklung besser verstanden werden.

Zwischen der Entwicklung der Passantenfrequenz und des Einzelhandelsumsatzes bestehen verschiedene Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge: Einerseits beeinflusst die in Fußgängerzonen gegebene Passantenfrequenz die dort zu erzielenden Einzelhandelsumsätze. Oft bringen zunehmende Passantenzahlen entsprechend steigende Einzelhandelumsätze mit sich. Andererseits erzeugen Menschen, welche die Innenstädte und Fußgängerzonen zum Einkaufen im Einzelhandel aufsuchen, entsprechende Passantenfrequenzen.

Im Folgenden wird die Entwicklung von Passantenfrequenz und Einzelhandelsumsatz grafisch gegenübergestellt. Hierfür wird zunächst der stationäre Einzelhandel mit Textilien, Bekleidung, Schuhen, Lederwaren dargestellt, da Geschäfte für diese Warengruppen häufig in Innenstädten zu finden sind. Der Einzelhandel mit Textilien, Bekleidung, Schuhen, Lederwaren hatte im Jahr 2019, vor dem Einbruch durch die Corona-Pandemie, allerdings nur einen Anteil von 8 % am gesamten Einzelhandelsumsatz. Ergänzend wird daher der Einzelhandel in Verkaufsräumen herangezogen, hier lag der Anteil am gesamten Einzelhandel bei 85 %. Der Rest ist zum größten Teil der Versand- und Internet-Einzelhandel.1

Die Zeitreihen des Einzelhandels wurden zur besseren Vergleichbarkeit auf das Basisjahr 2021 normiert. Um die täglichen und die monatlichen Zeitreihen vergleichen und in einer Abbildung darstellen zu können, wurden jeweils die Passantenfrequenzen am 15. Tag des Monats dargestellt.

Betrachtet man die Entwicklung der Zeitreihen in Abbildung 2, so sind die Einbrüche durch coronabedingte Lockdowns sowohl bei den Passantenfrequenzen als auch den beiden Einzelhandelsumsatzreihen erkennbar. Der Einzelhandel mit Textilien, Bekleidung, Schuhen, Lederwaren war im Gegensatz zum Einzelhandel in Verkaufsräumen offensichtlich stärker von den Einschränkungen durch die Corona-Krise betroffen und dürfte, unabhängig von den Lockdowns, im Gegensatz zum Einzelhandel in Verkaufsräumen, einen stärkeren Zusammenhang zu den Passantenfrequenzen haben. Insgesamt weist die grafische Analyse jedoch darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Einzelhandelsumsätzen und Passantenfrequenzen nicht sehr stark ausgeprägt ist.

Abb. 2

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4.2 Gegenüberstellung von Passantenfrequenzen und Gastgewerbeentwicklung

Es folgt eine Gegenüberstellung der Entwicklungen von Passantenfrequenzen und Gastgewerbeumsätzen. Der Passantenfrequenzindex könnte unter Umständen auch als Frühindikator oder zur Interpretation der Entwicklung des Gastgewerbeumsatzes genutzt werden.

Ebenso wie beim Einzelhandel liegt die Vermutung nahe, dass die Entwicklung des Gastgewerbeumsatzes mit der Entwicklung der Passantenfrequenzen zusammenhängt und umgekehrt. Gastgewerbebetriebe, wie Restaurants, Cafés und Bars liegen häufig in stark frequentierten Gebieten. Das Gastgewerbe profitiert einerseits von belebten Gegenden, wie Innenstädten und Fußgängerzonen. Umgekehrt zieht ein breites Angebot von Gastgewerbebetrieben Verbraucherinnen und Verbraucher an und bietet einen Anlass, die Innenstädte aufzusuchen.

In Abbildung 3 werden Umsätze für das Gastgewerbe insgesamt sowie für die Beherbergung und Gastronomie dargestellt, jeweils normiert auf das Basisjahr 2021. Ebenso wie beim Einzelhandel wurde die Passantenfrequenz jeweils für den 15. Tag des betreffenden Monats dargestellt.

In der grafischen Analyse sind die Einbrüche durch coronabedingte Lockdowns sowohl bei den Passantenzahlen als auch den drei Zeitreihen des Gastgewerbes erkennbar. Jedoch beginnt der zweite Einbruch der Zeitreihe im Gastgewerbe schon früher.

Der frühere Rückgang im Gastgewerbe ab etwa Oktober 2020 im Vergleich zum Rückgang der Passantenfrequenzen ab Mitte Dezember 2020 dürfte am "Lockdown light" liegen, der bereits ab 2. November 2020 galt und die Wirtschaft weniger einschränken sollte als ein "harter Lockdown". Daher wurden zunächst Bars, Restaurants und Cafés sowie Kinos, Theater und Ähnliches kurzfristig geschlossen, Geschäfte blieben hingegen geöffnet. Erst Mitte Dezember 2020 setzten die Bundesländer nach und nach einen "harten" Lockdown um, in dessen Rahmen alle Geschäfte, mit Ausnahme jener des täglichen Bedarfs, geschlossen wurden und teilweise Ausgangssperren galten.

Abb. 3

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5 Fazit

Durch die tägliche Saisonbereinigung der Passantenfrequenzen hat sich ein neuer, differenzierter Blick auf diese neue, experimentelle Datenquelle geöffnet. Es zeigt sich, dass der Umsatz im Einzelhandel mit Textilien, Bekleidung, Schuhen, Lederwaren sowie das Gastgewerbe während der Pandemie einen ähnlichen Verlauf wie der Passantenfrequenzindex hatten. Aus einer ersten grafischen Analyse ist hier ein grober Zusammenhang ersichtlich. Abgesehen von den coronabedingten Einbrüchen zeigt sich jedoch ein weniger eindeutiges Bild: Der Zusammenhang zwischen den Passantenfrequenzen und der Einzelhandels- sowie Gastgewerbeentwicklung ist – abgesehen von den pandemiebedingten Einbrüchen – nicht sehr stark.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es aufgrund der Kürze der Zeitreihe noch kaum möglich, einen statistischen Zusammenhang zwischen Passantenfrequenzen und Umsatzentwicklung im Einzelhandel oder Gastgewerbe nachzuweisen. Wenn die Zeitreihe der Passantenfrequenzen lang genug ist, können eventuell monatliche Saisoneffekte identifiziert und eine monatliche Kalender- und Saisonbereinigung durchgeführt werden. Dann kann die Stärke der Korrelation zwischen Passantenfrequenzen und Einzelhandels- beziehungsweise Gastgewerbeumsatz mittels monatlicher kalender- und saisonbereinigter Vormonatsraten quantifiziert werden.

Parallel werden im Statistischen Bundesamt weitere Datenquellen als mögliche Frühindikatoren untersucht, beispielsweise Tischreservierungen über OpenTable für die Gastronomie oder Scannerdaten für den Lebensmitteleinzelhandel.

Fußnote

1: Einen geringen Teil des Einzelhandels macht der Einzelhandel an Verkaufsständen und auf Märkten aus.

Literaturverzeichnis

Cleveland, R. B./Cleveland, W. S./McRae, J. E./Terpenning, I. (1990): STL: A Seasonal-Trend Decom-position Procedure Based on Loess. Journal of Official Statistics, 6 (1), 3-73.

Ollech, D. (2021): Seasonal Adjustment of Daily Time Series. Journal of Time Series Econometrics, 13 (2), 235-264.

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