Experimentelle Statistiken MikroSimulatoR – wie Deutschland in Zukunft aussehen könnte

EXSTAT

Was sind Mikrosimulationen?

Mikrosimulationen ermöglichen Simulationen zur ex ante Analyse und erlauben "Was wäre wenn-Aussagen". Sie werden häufig zur Abschätzung der Auswirkungen von hypothetischen oder bevorstehenden Veränderungen eingesetzt. So können beispielsweise die Effekte politischer Reformen oder demografischer Phänomene eingeschätzt werden, selbst wenn diese noch nicht in der realen Welt umgesetzt wurden oder eingetreten sind. Die meisten Entwicklungen setzen sich aus mehreren Mikroeinheiten zusammen, die häufig durch komplexe Zusammenhänge und Interdependenzen gekennzeichnet sind. Mikrosimulationen setzen direkt bei den Mikroeinheiten einer zu untersuchenden Thematik an und modellieren deren Veränderungen sowie ihre Auswirkungen auf andere Einheiten. So werden beispielsweise die Veränderungsprozesse einzelner Personen und Haushalte zur Simulation des Einflusses des demografischen Wandels auf die regionale Krankenhaus- oder Grundschulversorgung betrachtet.

Aussagekraft und Einschränkungen

Die dynamische Mikrosimulation modelliert auf individueller Ebene zum Beispiel die heute bereits angelegten demografischen Strukturen und projiziert diese in die Zukunft. Sie liefern "Wenn-dann-Szenarien" und helfen damit zu verstehen, wie sich die Bevölkerungsdynamik unter bestimmten demografischen Voraussetzungen entwickeln könnte. Da demografische Prozesse in der Regel weit in die Zukunft hineinwirken und sich nur langsam verändern, liefern Mikrosimulationen wichtige Hinweise für mögliche künftige demografische Veränderungen.

Von der Mikrosimulation abzugrenzen ist die Bevölkerungsvorausberechnung, welche ebenfalls die künftigen Auswirkungen heute bereits angelegter Strukturen und erkennbarer Veränderungen demografischer Prozesse quantifiziert, jedoch anders als die Mikrosimulation auf der Makroebene operiert. Die Mikrosimulation setzt direkt auf der individuellen Ebene an und erlaubt es somit, die demografischen Interdependenzen zwischen den Personen und Haushalten zu berücksichtigen, welche im Modell abgebildet werden. Die demografischen Prozesse können präziser abgebildet werden, da individuelle Charakteristika hierbei eine zentrale Rolle spielen. So sind beispielsweise Alter, Geschlecht und Herkunft relevant für das Wanderungsverhalten. Auch Szenarien können in der Mikrosimulation nach individuellen Merkmalen oder regional differenziert definiert werden. Beispielsweise kann analysiert werden, welche Landkreise und kreisfreien Städte am meisten wachsen würden, wenn vermehrt Haushalte von der Stadt auf das Land ziehen würden.

Wie bei jedem Modell kann niemals eine korrekte Abbildung der vollständigen komplexen Realität erzielt werden. Das Mikrosimulationsmodell berücksichtigt weder die Veränderungen individueller Präferenzen oder Entscheidungen noch strukturelle gesellschaftliche Schocks oder Umbrüche. Die Mikrosimulation hat nicht zum Ziel, Vorhersagen für die genaue Entwicklung bestimmter demografischer Indikatoren zu treffen. Vielmehr hat die Mikrosimulation das Ziel verschiedene Szenarien und Auswirkungen politischer Reformen oder demografischer Phänomene abzubilden.

Das Projekt MikroSim

Im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsgruppe FOR 2559 wird ein "sektorenübergreifendes kleinräumiges Mikrosimulationsmodell" (MikroSim) erarbeitet. Mitglieder der Forschungsgruppe sind das Statistische Bundesamt, die Universitäten Trier und Duisburg-Essen sowie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Für die Mikrosimulation der Bevölkerung Deutschlands modellieren wir in MikroSim das Verhalten einzelner Personen und Haushalte.

Eine der großen Herausforderungen bei der dynamischen Mikrosimulation auf kleinräumiger Ebene ist die Datenbasis. Es existiert kein sachgerechter Datensatz, der ganz Deutschland kleinräumig abdeckt, einen langen Zeitraum abbildet und viele sozio-demografische Themen umfasst. Daher wurde für die Mikrosimulation eine entsprechende synthetische Datenbasis aufgebaut. Synthetisch bedeutet, dass es sich um künstlich erzeugte Daten handelt, die die Struktur und die statistischen Eigenschaften von Daten abbilden, die aus realen Ereignissen gewonnen wurden. Die Simulationsgrundlage für MikroSim bilden Daten, die mithilfe von Ergebnissen des Zensus 2011 erstellt und an regionale, veröffentlichte Eckwerte angepasst wurden. Veränderungsprozesse der Haushalte und Individuen werden in datenbasierten Modellen geschätzt, beispielsweise wird die Wahrscheinlichkeit einer Geburt für Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren simuliert. So wird die Veränderung der Bevölkerung Deutschlands für jedes Simulationsjahr fortgeschrieben. Die Ergebnisse werden an, in den letzten Jahren beobachtete, wenn möglich regionale, Kenngrößen angepasst. Für weitere methodische Erläuterungen siehe Münnich et al. (2021) sowie https://mikrosim.uni-trier.de/.

Die R-Shiny-App MikroSimulatoR

In der Anwendung MikroSimulatoR werden zusammengefasste Ergebnisse des MikroSim Projekts testweise unter Verwendung einer R-Shiny-App dargestellt. Der MikroSimulatoR zeigt die simulierte Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands und seiner Landkreise für verschiedene Szenarien bis zum Jahr 2040.

Über den nachfolgenden Button gelangen Sie direkt zur interaktiven Web-Anwendung "MikrosimulatoR".



Der MikroSimulatoR hat das Ziel das Potential von Mikrosimulationen anhand von Anwendungsfällen darzustellen. Hierbei wird mithilfe von zwei Themenbereichen testweise methodisch aufgezeigt, wie sich Bevölkerungsdynamiken verändern könnten, wenn

  • Deutschland ein perfektes Gesundheitssystem hätte (Anwendungsfall 1),
  • Haushalte ihr Umzugsverhalten ändern würden (Anwendungsfall 2).

Diese in der R-Shiny-App dargestellten Szenarien sollen interaktiv und intuitiv an das Thema Mikrosimulation heranführen. Die Szenarien basieren auf speziellen Annahmen und spiegeln nicht die Realität wieder. Es wird lediglich untersucht, wie sich bestimmte Indikatoren verändern könnten, wenn an einer spezifischen Rahmenbedingung "geschraubt" wird.

Es wird dabei immer von einem Basisszenario ausgegangen. Dort wird hinsichtlich des künftigen Wanderungsverhaltens angenommen, dass es dem Median der vorigen Dekade entspricht. Künftige exogene Veränderungen können nicht berücksichtigt werden. Für die einzelnen Anwendungsfelder werden dann jeweils inhaltlich motivierte Szenarien berechnet. Die Szenarien unterscheiden sich hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden Annahmen über die weitere Entwicklung verschiedener Einflussfaktoren wie der Mobilität oder Mortalität der Bevölkerung.

Anwendungsfall: Vermeidbare Sterbefälle

Die Bevölkerung Deutschlands unterliegt einem erheblichen demografischen Wandel. Die fortschreitende Alterung der Bevölkerung stellt eine große Herausforderung für die Gesellschaft dar. Auswirkungen zeigen sich bereits heute unter anderem in der Altenpflege und dem Arbeitsmarkt. Das Szenario "Vermeidbare Sterbefälle" zeigt auf, wie mithilfe von Mikrosimulation untersucht werden kann, wie sich medizinischer Fortschritt auf den demografischen Wandel auswirken könnte. International dient die sogenannte vermeidbare Sterblichkeit als Indikator für die Qualität der Gesundheitsversorgung und Präventionspolitik. Das hier simulierte Szenario in dem die vermeidbare Sterblichkeit komplett verhindert wird, zeigt also den unrealistischen Fall eines perfekten Gesundheits- und Vorsorgesystems. Das Szenario dient somit zur Analyse des Spektrums der möglichen Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur durch Verbesserungen im Gesundheitssystem. Beispielsweise könnte die Erwartung bestehen, dass ein perfektes Gesundheits- und Vorsorgesystem sich positiv auf die Zahl der Erwerbstätigen auswirken könnte. Gleichzeitig könnte ein perfektes Gesundheitssystem Auswirkungen auf die Alterung der Bevölkerung und damit einhergehend auf den Pflegebedarf haben.

Diese potenziellen Auswirkungen werden im Rahmen des Anwendungsfalls 1 beleuchtet. Als vermeidbare Sterbefälle werden solche Todesfälle klassifiziert, die unter optimalen Vorsorge- und Behandlungsbedingungen als vermeidbar gelten. Der Vergleich mit dem Basisszenario zeigt, dass bei Verhinderung aller vermeidbaren Sterbefälle die ohnehin deutlich wachsende Anzahl pflegebedürftiger Personen weiter ansteigen würde, während bis 2041 keine relevanten Auswirkungen auf die Zahl der Erwerbspersonen zu beobachten sind. Ursächlich hierfür ist, dass zwar die Anteile der Sterbefälle, die als vermeidbar gelten, über alle Altersgruppen relativ konstant sind, aber in absoluten Zahlen der größte Teil der vermeidbaren Sterbefälle auf die Altersgruppen zwischen 55 und 65 Jahren entfällt. Hierdurch ergeben sich stärkere Auswirkungen auf die Pflegebedarfe als auf die Erwerbstätigenzahlen. Zum einen ist die Quote der Erwerbsbeteiligung niedriger als in jüngeren Altersklassen und zum anderen sind die verbleibenden potenziellen Erwerbsjahre bis zum Ruhestand begrenzt. Somit ergibt sich gemessen an der hohen Zahl der Erwerbstätigen insgesamt keine große Veränderung der Erwerbspersonen im Szenario.

Szenarien: Stadtflucht und Landflucht

Bezahlbarer und angemessener Wohnraum zählt zu den Grundbedürfnissen einer Gesellschaft und beeinflusst die Lebensqualität und damit auf direkte Weise den Lebensstandard der Bevölkerung. Wohnraumknappheit sowie infolgedessen erheblich steigende Miet- und Kaufpreise prägen die aktuelle Diskussion. Diese muss jedoch regional differenziert geführt werden. Insbesondere in den Ballungszentren Deutschlands ist das Wohnraumangebot durch vermehrten Zuzug sehr knapp. Andere, überwiegend ländlich geprägte Regionen hingegen verzeichnen ein Schrumpfen der Bevölkerung und teilweise Leerstand von Wohnraum. Im zweiten Anwendungsfall wird daher unter Anwendung von Mikrosimulation der Frage nachgegangen, wie sich Regionen entwickeln könnten, würde es zu einem Bruch im bisherigen Wanderungsverhalten kommen.

Im Szenario Landflucht wird angenommen, dass sich die Zahl der Fortzüge aus ländlichen Kreisen für zehn Jahre jährlich um ein Prozent gegenüber dem Median der vergangenen zehn Jahre erhöht, sodass im letzten Szenariojahr ein zehnprozentiger Anstieg der Fortzüge erreicht wird. Wenn also ein ländlicher Kreis zwischen 2011 und 2020 im Median 1 000 Fortzüge jährlich zu verzeichnen hatte, so wird im Basisszenario auch für die kommenden zehn Jahre mit dieser Zahl an Fortzügen gerechnet. Im Landflucht-Szenario hingegen wird die Anzahl an Fortzügen jährlich um 10 erhöht, sodass im zehnten Jahr des Szenarios (2030) 1 100 Menschen aus diesem Kreis fortziehen. Die Zahl der Zuzüge in Städte wird entsprechend der zusätzlichen Fortzüge aus ländlichen Regionen erhöht. Im Landflucht-Szenario zeigt sich, in welchem Ausmaß diese Umzüge vom Land in die Stadt sich wiederum in städtischen Regionen als Bevölkerungszuwachs niederschlagen. So fällt beispielsweise der Bevölkerungsrückgang im Jahr 2030 in Thüringen (gegenüber 2020) im Landflucht-Szenario einen Prozentpunkt stärker aus als im Basisszenario, da in diesem Bundesland ein großer Teil der Bevölkerung in ländlichen Regionen lebt. In Schleswig-Holstein führen die Annahmen des Landflucht-Szenarios dazu, dass in 2030 statt einem leichten Bevölkerungswachstum gegenüber 2020 ein Rückgang der Bevölkerung simuliert wird.

Das Szenario Stadtflucht bildet die entgegengesetzte Entwicklung ab: Es wird angenommen, dass sich die Zahl der Umzüge aus städtischen Kreisen in ländliche Kreise für zehn Jahre jährlich um ein Prozent gegenüber dem Median der vergangenen zehn Jahre erhöht. Damit wird im letzten Szenariojahr ein zehnprozentiger Anstieg der Fortzüge aus Städten erreicht. Auch hier wird die Zahl der Zuzüge in ländliche Kreise entsprechend erhöht. Im Stadtflucht-Szenario zeigt sich ein umgekehrtes Bild als wenn Landfluchttendenzen angenommen werden. Grafisch lassen sich die Auswirkungen beispielsweise in Nordrhein-Westfalen gut erkennen, wo viele städtische Regionen räumlich nah beieinanderliegen, aus denen verstärkt Personen wegziehen. Dort ist der Bevölkerungsrückgang im Stadtflucht-Szenario in 2030 doppelt so hoch wie im Basisszenario. In stark wachsenden Städten wie Berlin, Hamburg oder München führt der verstärkte Wegzug im Stadtflucht-Szenario dennoch nicht zu einer Schrumpfung der Bevölkerung gegenüber 2020, sondern lediglich zu einem geringeren Wachstum als im Basisszenario.

Mikrosimulationen können die regionalen Entwicklungen der Bevölkerung unter bestimmten Annahmen abschätzen und so Ansatzpunkte für mögliche regionalpolitische Maßnahmen aufzeigen.

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Informationen zur Bevölkerungsvorausberechnung

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