Im Interview mit Susanne Hagenkort-Rieger, Leiterin der Abteilung "Unternehmen, Verdienste, Verkehr" im Statistischen Bundesamt, erfahren Sie, wie wir die Veröffentlichung von Konjunkturindikatoren u.a. mithilfe von Big Data beschleunigen möchten, um so dem Bedarf an hochaktuellen Daten – insbesondere in Krisenzeiten – gerecht zu werden. Zudem erläutert Frau Hagenkort-Rieger wie anhand von Mobilfunkdaten Schlüsse über das Mobilitäts- und Konsumverhalten der Bevölkerung gewonnen werden können.
Seit einigen Jahren prägen Krisen die politische Agenda. Nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie kam der Angriff Russlands auf die Ukraine und damit verbunden die Krise bei Energie und Lebenshaltungskosten. Wie haben sich diese Krisen auf den Datenbedarf von Politik und Gesellschaft ausgewirkt?
Susanne Hagenkort-Rieger: Die von Ihnen angesprochenen Krisen haben in den letzten knapp drei Jahren vermehrt zu einem akuten Bedarf an hochfrequenten und hochaktuellen Daten geführt. Dies deshalb, weil sich im Falle solcher Schocks die Gegenwart nicht aus Vergangenheitsdaten ableiten lässt. Gerade in Krisensituationen ist ein fundiertes Bild der aktuellen Situation unerlässlich und das bekommen Entscheidungsträgerinnen und -träger nur dann, wenn die Auswirkungen der Krisen möglichst in Echtzeit mit belastbaren Daten gemessen werden.
Im Falle der COVID-19- oder Energiekrise werden zudem sehr spezifische Daten benötigt, die die amtliche Statistik bisher nicht in der gebotenen Aktualität oder der geforderten Tiefe bereitstellt. Wir greifen daher vermehrt auch auf Daten zurück, die wir nicht selbst produzieren, die aber aufgrund ihrer Aktualität oder ihres Inhalts besonders geeignet sind, die aktuelle Situation zu beschreiben.
Hatten diese Krisen auch Einfluss darauf, wie Nutzerinnen und Nutzer unsere Daten konsumieren?
Susanne Hagenkort-Rieger: Es zeigt sich mehr und mehr der Wunsch nach einer stärkeren visuellen Aufbereitung der Daten. Die Nutzerinnen und Nutzer wollen sich schnell einen Überblick über die aktuelle Situation verschaffen. In diesem Kontext bietet insbesondere unser interaktives Portal "Dashboard Deutschland" einen Mehrwert. Im Sinne der Open Data-Strategie der Bundesregierung ermöglicht es zudem Politik, Wirtschaft, den Medien, aber auch der Zivilgesellschaft einen komfortablen Zugriff auf aktuelle und hochfrequente Daten, die die aktuelle Situation beleuchten. Das Angebot ermöglicht durch personalisierte Dashboards und unterschiedliche Darstellungsformen einen Zuschnitt auf individuelle Informationsbedarfe.
Ihre Abteilung ist unter anderem für die Verkehrsstatistiken zuständig. Die COVID-19-Krise und auch die Energiekrise haben den Bedarf an kurzfristig verfügbaren Mobilitätsdaten erhöht. Welche Ansätze gibt es da bei Destatis?
Susanne Hagenkort-Rieger: Ja, der Bedarf an hochaktuellen Daten zur Mobilität oder an Mobilitätsindikatoren hat in der Tat im Zuge der erwähnten Krisen deutlich zugenommen. Einer unserer Ansätze war es, anlassbezogen mit Big Data zu experimentieren. Wir haben beispielsweise Mobilfunkdaten ausgewertet, um Passantenfrequenzen in Einkaufsstraßen zu ermitteln und darüber Erkenntnisse für die Entwicklung des stationären Einzelhandels zu gewinnen.
Außerdem haben wir Mobilfunkdaten genutzt, um tagesgenau auf die Nutzung verschiedener Verkehrsträger schließen zu können. So konnten wir feststellen, dass der Schienenverkehr aufgrund des 9-Euro-Tickets stark zugenommen, der Straßenverkehr allerdings kaum abgenommen hat. Die ausgewerteten Mobilfunkdaten sind also ein Hinweis darauf, dass dieses kurzfristige Angebot eher zu mehr Mobilität geführt hat statt Substitutionseffekte auszulösen.
Neben dem Bereich Verkehr sind auch Konjunkturindikatoren in Ihrer Abteilung angesiedelt. Gerade hier sind Daten am aktuellen Rand gefragt. Welche Pläne gibt es um diesem Bedarf gerecht zu werden?
Susanne Hagenkort-Rieger: Im Bereich der Konjunkturstatistiken können wir derzeit erste Ergebnisse je nach Indikator und Wirtschaftsbranche frühestens 30 Tage nach Ende des Berichtszeitraums veröffentlichen, zum Teil auch erst nach 55 Tagen. In meiner Abteilung arbeiten wir an einem Projekt mit dem Arbeitstitel t+15. Ziel dieses Projekts ist es, erste Schätzungen für bestimmte Indikatoren schon nach 15 Tagen zu publizieren.
Dazu schauen wir uns den Prozess der Statistikerstellung ganzheitlich an und versuchen an allen Schräubchen zu drehen, um eine Beschleunigung zu erzielen. Zum einen arbeiten wir daran, Meldungen von den Betrieben verstärkt automatisiert direkt aus deren Buchhaltungssoftware zu erhalten und den zeitintensiven Prozess der Datenplausibilisierung durch KI zu beschleunigen. Außerdem setzen wir etwas mutiger als bisher innovative Schätzmethoden ein. Hier haben wir uns entschieden für einen Mix aus dynamischen Faktormodellen und Imputationen auf Basis der zum Zeitpunkt t+15 bereits vorliegenden Daten unter Nutzung der Nearest-Neighbour-Methode.
Sie wollen also auch Big Data einsetzen, um Konjunkturdaten frühzeitiger zu veröffentlichen. Können Sie uns da ein Beispiel nennen, damit man sich das besser vorstellen kann?
Susanne Hagenkort-Rieger: Ja, sehr gerne. Konkret möchte ich ein Beispiel aus dem Gastgewerbe herausgreifen: Sie haben vielleicht schon einmal einen Restauranttisch über die Plattform Open Table gebucht. Bei dieser Online-Reservierung entstehen natürlich auch Daten und die sind frei im Internet verfügbar. Diesen Open Table Zahlen haben wir Daten der amtlichen Statistik, konkret den realen Umsatz im Gastgewerbe, gegenübergestellt. Legt man die zwei Zeitreihen übereinander, zeigt sich ein sehr ähnlicher Verlauf – mit einem signifikanten Unterschied – die Open Table Daten liegen bis zum aktuellen Rand vor, unsere amtliche Statistik leider nicht.
Dieses Beispiel veranschaulicht, warum wir darüber nachdenken, wie wir unsere Konjunkturstatistiken ggf. mithilfe von Big Data beschleunigen können.
Wo geraten Sie bei dem Versuch zügiger und effizienter verlässliche und relevante Daten zu produzieren an Grenzen?
Susanne Hagenkort-Rieger: Die amtliche Statistik kann nur auf Basis einer gesetzlichen Anordnung Statistiken erstellen bzw. eine Erhebung durchführen. Dies erschwert unsere Arbeit gerade in Krisenzeiten, in denen von uns hochaktuelle belastbare Daten mit dem Siegel "amtlich bestätigt" gefordert werden. Daher müssen wir mit all unseren Möglichkeiten darauf hinwirken, die rechtlichen Rahmenbedingungen unserer Arbeit zu modernisieren. Beispielsweise, wenn es darum geht, kleine Ad-hoc-Erhebungen durchführen zur Wirkung des 9-Euro-Tickets, der Tankrabatte oder auch zur Entwicklung des Gasverbrauchs der privaten Haushalte.
Auch die Nutzung von privat gehaltenen Daten (Big Data) durch die amtliche Statistik stößt rechtlich an ihre Grenzen. Hier bedarf es dringend rechtlicher Erleichterungen, was den Zugang zu Big Data oder das Verknüpfen von Daten betrifft.
Vielen Dank für das Interview!