Hauptstadtkommunikation Wohlstand neu denken: Öko­system­rechnungen als Teil der Umwelt­ökonomischen Gesamtrechnungen

Im Interview spricht Dr. Birgit Settekorn, Leiterin der Abteilung Landwirtschaft, Umwelt, Außenhandel im Statistischen Bundesamt, darüber wie anhand von Ökosystemrechnungen als Teil der Umweltökonomischen Gesamtrechnungen Wohlstand neu gedacht wird und warum dafür auch die Unterstützung der Politik notwendig ist.

Die Debatten über Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Wohlfahrtsmessung und der Green Deal der EU Kommission zeigen die Notwendigkeit an umfassenden Informationen zu den Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Umwelt. Welche Datengrundlage bietet das Statistische Bundesamt (Destatis) in diesem Zusammenhang?

Eine maßgebliche Grundlage hierfür sind die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen (UGR). Dieses Datenangebot wird nun wesentlich erweitert: Mit den Ökosystemrechnungen über Ausdehnung, Zustand und Leistung aller Ökosysteme in Deutschland vervollständigt Destatis die UGR. Die Ökosysteme werden mit ihrer Vieldimensionalität erfasst. Dieses Instrument bietet zukünftig wichtige neue Möglichkeiten, Wohlstand und Nachhaltigkeit umfassender zu betrachten und fundierte umwelt- und wirtschaftspolitische Entscheidungen treffen zu können.

Die Ihnen vorliegenden Daten zu Ökosystemen sind somit sehr komplex. Welche Möglichkeiten bieten Sie, um diese Informationen anschaulich darzustellen?

Zur Darstellung der Vielfalt und Verteilung der vorkommenden Ökosysteme in Deutschland haben wir den Ökosystematlas entwickelt. Er ist eine visuelle Kartenanwendung auf unserer Webseite, die detailliert bis auf Gemeindeebene Fläche, Lage und zukünftig auch der Zustand aller Ökosysteme in Deutschland abbildet. Basierend auf den umfangreichen Berechnungen der UGR werden die Leistungen aller Ökosysteme in Deutschland für den Menschen erfasst und bewertbar gemacht. Der Ökosystematlas bietet hier einen leicht zugänglichen Einstieg in die Thematik.

Warum befasst sich Destatis überhaupt mit den Ökosystemrechnungen als Teil der UGR? Für Umweltdaten haben wir in Deutschland mit dem Umweltbundesamt und dem Bundesamt für Naturschutz bereits zwei renommierte Fachbehörden mit hoher Expertise.

Die UGR sind keine Konkurrenz dieser Institutionen und es wird auch nicht parallel die gleiche Arbeit gemacht. Letztere stellen im wesentlichen Umweltdaten und Studien bereit. Die UGR dagegen beinhalten aufeinander abgestimmte Informationen zu zahlreichen die Umwelt und Wirtschaft betreffenden Themen. Sie ermöglichen damit ein vollständiges Bild über die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Umwelt und zeigen nicht nur einzelne Ausschnitte. So lassen sich zum Beispiel Maßnahmen des Umweltschutzes, wie die Besteuerung von Ressourcen, direkt mit deren Nutzung in Verbindung bringen. Es gibt ein Gesamtbild. Damit schaffen wir die Voraussetzung für eine fundierte Debatte und politische Entscheidungsfindung. Um auch den Wert und die Bedeutung der Ökosysteme für den Menschen darzustellen, bauen wir nun die Ökosystemrechnungen auf.

Dass Ökosystemleistungen einen wichtigen Beitrag zu unserem Wohlstand beitragen, ist doch schon lange bekannt. Warum sind diese von den UGR nicht bereits früher erfasst worden?

Das war bereits in den 90er Jahren Thema, allerdings fehlten damals die erforderlichen Ausgangsdaten und die Technik. Es konnte nur mittels Katasterinformationen die Flächenstatistik aufgebaut werden, die einen Hinweis auf die Nutzung des Raumes gibt. Die Sachlage ist heute eine andere. Durch zahlreiche neue Datengrundlagen, wie z.B. aus dem Verwaltungsvollzug, international abgestimmte Methoden, die Verfügbarkeit von hochauflösenden Satellitenbildern und die weiterentwickelten technischen Möglichkeiten wird es jetzt machbar, die tatsächlich von den Ökosystemen erbrachten Leistungen hinreichend genau abschätzen und bewerten zu können. Idealerweise bekommen wir damit die Chance, zukünftig einen dem Bruttoinlandsprodukt vergleichbaren Indikator zur Leistung der Natur für den Menschen zu berechnen.

Was unterscheidet die Ökosystemrechnungen konkret von den anderen Teilen der UGR?

Bisher setzt die Berechnung der UGR im Wesentlichen auf den Ergebnissen anderer Statistiken auf; sie sind quasi der Statistikproduktion nachgelagert. Bei den Ökosystemrechnungen ist das anders: Basis für die Flächenbilanz der Ökosysteme sind überwiegend kleinräumig georeferenzierte Daten, also keine Statistikdaten. In dieser Bilanz werden die Veränderungen der flächenmäßigen Zusammensetzung ganz Deutschlands nach über 70 Ökosystemtypen ausgewiesen. Auf Grundlage dieser Ergebnisse werden in weiteren Schritten die Berechnungen zum Zustand und Leistung der Ökosysteme aufgebaut.

Diese Herangehensweise auf Ebene der Mikrodaten und die gewählte Architektur der Produktionsumgebung eröffnet ganz neue Möglichkeiten. So lassen sich direkt aus dem Produktionsprozess heraus weitere Produkte mit aktuellen Angaben erstellen. Ein anschauliches Beispiel ist der beschriebene Ökosystematlas.

Welchen Mehrwert bieten die Ökosystemrechnungen neben dem Ökosystematlas ganz konkret? Können Sie hier ein Beispiel nennen?

Für den Mehrwert der Ökosystemrechnungen gibt es zahlreiche Anwendungsfälle. Mit dem Hitzesommer 2022 kam die Frage nach dem Umbau von Städten auf, um klimaresilient zu werden. Eine Forderung war die Bereitstellung von ausreichend Grünflächen in den Städten, da diese bei hohen Temperaturen im Sommer für Abkühlung sorgen können. Diesen Kühlungseffekt berechnen wir im Rahmen der Ökosystemrechnungen. So wird der Nutzen der Grünflächen für die Gesellschaft quantifiziert und kann bei der politischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Da die Ökosystemrechnungen zudem regelmäßig aktualisierte Daten bereitstellen, können auch Veränderungen der Kühlungsleistung im Zeitverlauf dargestellt werden. Auch weitere Fragestellungen zu Leistungen der Ökosysteme, z.B. für Erholung und den Tourismus, Klima- oder Wasserregulierung oder zur Nutzung von erneuerbaren Ressourcen, werden sich aus diesem System beantworten lassen.

Der Aufbau der Ökosystemrechnungen ist mit einem hohen Aufwand bei Destatis verbunden. Da dies Grundlagenarbeit ist, sind viele der genannten Ergebnisse noch nicht sichtbar oder realisierbar. Wie gehen Sie in Zeiten knapper Ressourcen mit dieser Herausforderung um?

Die größte Herausforderung ist der Aufbau von langfristigem Expertenwissen für den Aufbau und die Pflege der Ökosystemrechnungen. Hier investiert Destatis im Rahmen seiner Möglichkeiten, um das im Projekt erlangte, unbedingt erforderliche Expertenwissen in diesem Bereich zu halten. Zum Glück haben wir hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dieses Projekt maßgeblich vorantreiben und diese universelle Plattform für zahlreiche unterschiedliche Anwendungsfälle ausbauen. Hier müssen wir schauen, dass wir die Strukturen verstetigen und langfristige Beschäftigungen sichern.

Der von uns gewählte Produktionsprozess ist zudem sehr vorteilhaft. Generell geht es uns um die Leistung der Ökosysteme. Obwohl sich das System erst im Aufbau befindet, können wir hieraus schon aktuell Informationen zur Fläche und ihrem Zustand veröffentlichen. So nutzen wir die Flächenbilanz, um daraus sieben Indikatoren zu den Nachhaltigkeitszielen der UN zu berechnen, für die dann keine aufwendigen eigenständigen Produktionssysteme mehr notwendig sind. Des Weiteren wird durch einen hohen Automatisierungsgrad der Betrieb des Systems der Ökosystemrechnungen zukünftig sehr effizient sein.

Damit dieses zukunftsträchtige Projekt sein volles Potential für neue Informationsleistungen entfalten kann und der dauerhafte Betrieb gesichert wird, hoffen wir auf die Unterstützung von unseren Stakeholdern in der Politik.

Vielen Dank für das Interview!