Hauptstadtkommunikation Der Zensus ist Grundlage für demokratische Prozesse

Im Interview mit Katja Wilken, Gesamt­projekt­leitung des Zensus 2022, erfahren Sie, welchen Nutzen die Zensus­ergebnisse für die Politik in Deutschland haben. Außerdem spricht Katja Wilken darüber, wie die Zukunft des Zensus in Deutsch­land aussieht und welche Herausforderungen dabei zu meistern sind.

Was ist das Ziel des Zensus?

Katja Wilken: Die Ergebnisse des Zensus sind eine extrem wichtige Planungs- und Entscheidungs­basis für sehr viele Bereiche, wie Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Sie liefern Informationen zur genauen Größe der Bevölkerung, den Lebensverhältnissen der Einwohnerinnen und Einwohner sowie zu dem Gebäude- und Wohnungsbestand in Deutsch­land, in den Bundesländern, aber auch in tiefer regionaler Gliederung für einzelne Gemeinden. So lassen sich beispielsweise Angaben zum Alter der Bevölkerung, der Größe von Familien, den Wohnverhältnissen der Haushalte bis hin zu Miete und Informationen über den Wohnungsleerstand für über 11 000 Gemeinden abrufen.

Damit ermöglicht der Zensus auf der Basis von präzisen Daten gesellschaftliche Planungs­prozesse bei Bund, Ländern und Gemeinden – zum Beispiel für die Entwicklung von Infrastruktur. Der Bau von Schulen und Kindertagesstätten kann damit viel besser geplant werden. Nicht zuletzt liefert der Zensus wichtige Daten für die Wissenschaft und wird auch für viele amtliche Statistiken als Basis benötigt.

Warum ist der Zensus für die Politik wichtig?

Wilken: Damit Politik und Verwaltung in die Zukunft planen können, sind verlässliche Kennzahlen zu Gebäuden und Wohnungen, Haushalten und Familien sowie zum Arbeitsmarkt und zur Bildung immens wichtig. Um diese zuverlässigen Basiszahlen zu haben, ist insbesondere eine regelmäßige Bestandsaufnahme der Bevölkerungszahl notwendig.

Schließlich ist die amtliche Bevölkerungszahl eine wichtige Grundlage für zahlreiche rechtliche Regelungen und demokratische Prozesse. Darauf basieren beispielsweise die Einteilung und Anpassung der Wahlkreise Deutschlands. Auch die Stimmenverteilung der einzelnen Bundesländer im Bundesrat wird anhand der vom Zensus erhobenen Daten bestimmt. Außerdem hat der Zensus ganz konkrete finanzielle Auswirkungen: der bundesweite Länderfinanzausgleich sowie der kommunale Finanzausgleich und auch die Fördergelder der Europäischen Union (EU) werden unter anderem auf seiner Basis berechnet. All diese Geldflüsse orientieren sich an Bevölkerungszahlen und werden pro Kopf berechnet. Ohne den Zensus wären diese Zahlen von groben Schätzungen abhängig und die Politik wäre oftmals zu Spekulationen gezwungen. Das gilt es zu vermeiden. Deshalb ist der Zensus unverzichtbar.

Enthält der Zensus darüber hinaus noch wichtige Informationen für die Politik?

Wilken: Insbesondere die regional unterschiedlichen Wohn- und Wohnungssituationen können anhand der Daten wie durchschnittliche Wohnraumgröße, Leerstand oder Eigentümer­quote sehr gut ausgewertet und zur Planung von Land- und Stadtentwicklung genutzt werden. Die Ergebnisse können Aussagen für jede Gemeinde und auch klein­räumig unterhalb der Gemeindeebene zur Verteilung von Ein- und Mehrfamilienhäusern, großen und kleinen Wohnungen sowie nicht zuletzt und erstmals beim Zensus 2022 der Nettokaltmiete machen. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse zum Leerstand detailliert auf, wie lange ein Leerstand andauert und welche Gründe insbesondere für längeren Leerstand vorliegen. Kenntnis darüber ist insbesondere vor dem Hintergrund des aktuellen Wohnungsmangels in vielen Großstädten besonders relevant, um aktuelle wohnungspolitische Problemstellungen bearbeiten zu können.

Der Zensus kann aber auch bei anderen ganz praktischen Fragen zu Rate gezogen werden: Zum Beispiel wurde in der Vergangenheit die Diskussion um Abstandsregeln von Windrädern zu Wohnhäusern in verschiedenen Bundesländern anhand der vom Zensus erhobenen Daten geführt.

Wie viele Erwerbstätige gibt es? Wo werden in den kommenden Jahren wie viele Kinder eingeschult? Wie viele Gebäude und Wohnungen sind in Deutschland vorhanden? All das und vieles mehr kann mithilfe der Zensusergebnisse beantwortet werden. Die Ergebnisse werden von den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch in der EU genutzt. Sie liefern ein präzises Lagebild und helfen, die Auswirkungen von ganz unterschiedlichen Entscheidungen deutschlandweit abzuschätzen.

Datenschutz ist dabei ja ein wichtiges Thema. Wie sicher ist der Zensus?

Wilken: Die amtliche Statistik lebt vom Vertrauen und von der Akzeptanz der Be­völ­ke­rung. Daher legen wir, die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, beim Zensus besonderen Wert auf Sicherheitsvorkehrungen, die den Schutz aller Daten garantieren. So werden von Anfang an maximale Datenschutzstandards mitgedacht, zum Beispiel über strenge Zugriffsbeschränkungen und moderne Verschlüsselungstechniken. Die Verfahren technischer und organisatorischer Art zum Schutz der Daten werden zudem regelmäßig evaluiert und entsprechen den neuesten technischen Sicherheits­standards.

Außerdem werden die Daten nur anonymisiert ausgewertet, personenbezogene Daten so früh wie möglich gelöscht. Beim Zensus geht es ja sowieso nicht darum, etwas über die individuellen Lebensverhältnisse oder Einstellungen der Einwohnerinnen und Ein­woh­ner zu erfahren. Statistik bedeutet eben nicht, dass der Einzelfall dargestellt wird. Viel­mehr werden die Daten verallgemeinert, Summen gebildet und Durchschnitte berechnet, so dass Entscheidungsträgerinnen und -träger eine verlässliche Grundlage erhalten.

Wie sieht die Zukunft des Zensus aus?

Wilken: Aus dem Zensus wird der Registerzensus. Die Methodik wird weiter optimiert. Bis 2031 werden wir Schritt für Schritt auf ein rein registerbasiertes Verfahren um­stellen, bei dem keine zusätzlichen Befragungen mehr nötig sind. Geokodierte Be­völ­ke­rungs­zahlen sollen der EU erstmals bereits zum Stichtag 31.12.2024 bereitgestellt werden. Hier müssen wir zuverlässig die Lieferpflichten Deutschlands erfüllen.

Indem wir zukünftig Datenübermittlungen aus Verwaltungsregistern den Vorzug geben, kommen wir auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2018 nach. Für den Zensus 2022 müssen noch mehr als 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger sowie 23 Millionen Immobilieneigentümerinnen und -eigentümer befragt werden. Sie alle wird der Registerzensus spürbar entlasten. Unsere Online-Fragebogen sind zwar sehr nutzer­freundlich, aber Informationen, die Bürgerinnen und Bürger bereits der Verwaltung geliefert haben, sollen künftig nicht erneut erfragt werden. Der Registerzensus setzt damit konsequent das Once-Only-Prinzip um, wie es der Koalitionsvertrag der Bundesregierung zum Bürokratieabbau fordert.

Was sind weitere Vorteile des Registerzensus?

Wilken: Benötigte Daten werden zukünftig soweit wie möglich aus Registern und anderen vorhandenen Quellen bezogen. Langfristig werden dadurch Kosten eingespart. In der Digitalisierung stecken enorme Innovationspotenziale für die amtliche Statistik. Dazu gehören der Einsatz moderner Cloud­technologien, die Nutzung von Verfahren der künstlichen Intelligenz oder das Einbeziehen von Satellitendaten.

Last but not least: Vom Registerzensus profitieren die Datennutzerinnen und -nutzer. Ich denke da insbesondere an Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen von den Kommunen bis zur EU. Sie müssen immer schneller und vorausschauender handeln, zugleich aber bürger­orientiert bleiben. Ihr Datenbedarf ist deutlich gewachsen. Mit Hilfe der weiterentwickelten Methode können wir ihnen Zensusergebnisse häufiger und unterhalb der Gemeindeebene bereitstellen, so dass sie eine noch bessere – weil eben aktuellere und lokalere – Datengrundlage haben.

Was sind die Herausforderungen auf dem Weg zum Registerzensus?

Wilken: Bis es soweit ist, müssen Register modernisiert oder neu aufgebaut werden. In Deutschland gibt es zum Beispiel – anders als in Österreich und in der Schweiz – noch kein einheitliches Verwaltungsregister mit Informationen zu allen Gebäuden und Wohnungen, auf das unterschiedliche Behörden bundesweit zugreifen könnten. Ein Gebäude- und Wohnungsregister würde diese Lücke schließen. Die Nutzungs­möglich­keiten wären vielfältig: von der Erstellung qualifizierter Mietspiegel über die Abbildung von Eigentumsverhältnissen für den Kampf gegen Geldwäsche bis hin zum Monitoring der Klimaschutzziele im Gebäudesektor. Zugleich wäre das Gebäude- und Wohnungs­register eine wichtige Datengrundlage für einen Registerzensus ganz ohne zusätzliche Befragungen. Für die Umsetzung braucht es eine breite politische Unterstützung von Bund, Ländern und Kommunen. Und natürlich eine Gesetzesgrundlage, damit Aufbau und Pflege rechtzeitig starten können.

Das allein reicht aber noch nicht aus, um die Daten für einen Registerzensus nutzen zu können?

Wilken: Nein, letztlich müssen die Daten aus verschiedenen Registern, die primär der Verwaltung dienen und zum Teil andere Definitionen und Standards als die amtliche Statistik nutzen, zu verlässlichen Zensusergebnissen werden. Das erfordert viel Ko­operation und Kommunikation mit den datenführenden Stellen in einem eng gesteckten Zeitrahmen, auch viel methodisches und technisches Knowhow. Die Daten müssen daten­schutz­konform auf der Personenebene miteinander verknüpft werden – entweder über einen nicht sprechenden Identifikator wie die Steuer-ID oder über Hilfs­merkmale wie Name oder Geburtsort. Ansonsten lässt sich das Once-Only-Prinzip nicht umsetzen. Außerdem müssen Personen- mit Gebäude- und Wohnungsangaben zusammengeführt werden, um Informationen zu Haushalten und Familien ableiten zu können. Dafür müssen künftig Gebäude- und Wohnungsnummern in die kommunalen Melderegister eingeführt werden.

Was mir abschließend besonders wichtig ist: Der Registerzensus macht keine Abstriche - weder bei der Datenqualität noch bei Datenschutz und IT-Sicherheit. Unser Vorgehen muss jederzeit verfassungskonform sein, das heißt geeignet, angemessen, sicher und zugleich möglichst wenig aufwändig. Wir haben bis zum Registerzensus also noch ein wenig Arbeit vor uns.

Vielen Dank für das Interview!