Geburten Geburtenraten und Tempoeffekt

Kohortenfertilität

Bei Fragestellungen, die sich auf das generative Verhalten der Bevölkerung oder die Realisierung des Kinderwunsches beziehen, steht die Längsschnittbetrachtung im Vordergrund. Sie wird mit den Indikatoren der so genannten Kohortenfertilität abgebildet, d. h. mit der Geburtenhäufigkeit der Frauenjahrgänge (Kohorten). Dazu gehören vor allem die endgültige Kinderzahl je Frau eines Jahrgangs sowie die Angaben zur Verteilung der Frauenjahrgänge nach der Zahl der Kinder (Parität). Da die endgültige Kinderzahl je Frau eines Jahrgangs erst dann ermittelt werden kann, wenn die entsprechende Kohorte ihr 50. Lebensjahr erreicht hat, können die altersspezifischen und kumulierten Geburtenziffern bis zum jeweils erreichten Alter (z. B. von 35 oder 40 Jahren) wichtige Hinweise auf die Entwicklungstrends liefern. Ab dem Alter von 40 Jahren bieten die kumulierten Geburtenziffern eine verlässliche Grundlage für die Schätzung der endgültigen Kohortenfertilität.

Zusammengefasste Geburtenziffer

Die zusammengefasste Geburtenziffer eines Kalenderjahres (englisch: total fertility rate, TFR) zeigt, wie viele Kinder durchschnittlich je Frau zur Welt kamen. Sie charakterisiert damit das Geburtenverhalten der Frauen im jeweiligen Kalenderjahr.

Die zusammengefasste Geburtenziffer eines Kalenderjahres wird auch als durchschnittliche Kinderzahl beschrieben, die eine Frau im Laufe ihres Lebens hätte, wenn die altersspezifischen Geburtenziffern, die im betrachteten Kalenderjahr nachgewiesen wurden, von ihrem 16. bis zu ihrem 50. Lebensjahr gelten würden. Da dies aber eine theoretische Annahme ist, weicht die endgültige Kinderzahl meist von der zusammengefassten Geburtenziffer der Kalenderjahre ab.

Grenzen in der Aussagekraft der empirischen Geburtenraten

Bei der Beschreibung der demografischen Verhältnisse in einer Periode kann zudem von Interesse sein, wie die Geburtenneigung der Frauen ausgeprägt ist, die aktuell im gebärfähigen Alter sind. Die empirisch messbaren Indikatoren (die Kohortenfertilität und die zusammengefasste Geburtenziffer der Kalenderjahre) geben keine erschöpfende Antwort auf diese Frage: Die Kennzahlen der Kohortenfertilität sind für die Frauen im Alter unter 30 Jahren noch nicht aussagekräftig. Die zusammengefasste Geburtenziffer der Kalenderjahre beinhaltet keine Informationen über das Geburtenverhalten der Frauen vor und nach dem beobachteten Kalenderjahr.

Tempoeffekt und Schätzung der tempobereinigten zusammengefassten Geburtenziffer

Die Geburtenneigung der in einer Periode lebenden Frauen kann durch die zusammengefasste Geburtenziffer bei bestimmten Konstellationen über- oder unterschätzt werden. Erhöht sich zum Beispiel das Gebäralter der Mütter, wie dies in Deutschland schon seit langem der Fall ist, dann wird oft mit den in einem Kalenderjahr beobachteten Geburtenziffern nur ein Teil der gesamten Fertilität abgebildet. Dies passiert zum einen, weil viele jüngere Frauen die Geburt eines Kindes auf ein höheres Lebensalter aufschieben und ihre altersspezifischen Geburtenziffern aktuell niedrig ausfallen. Zum anderen, weil Frauen im höheren gebärfähigen Alter das Gros ihrer Geburten schon hinter sich haben und ebenfalls niedrige Geburtenhäufigkeit im Beobachtungsjahr aufweisen. Aufgrund dieser Effekte fällt die Summe der altersspezifischen Geburtenziffern, d. h. die zusammengefasste Geburtenziffer zu gering aus und tendiert zur Unterschätzung der tatsächlichen Geburtenneigung der betroffenen Frauen. Verschiebungen im durchschnittlichen Gebäralter können auch zum jüngeren Alter hin erfolgen. In diesem Fall wird die Geburtenneigung durch die zusammengefasste Geburtenziffer der Kalenderjahre tendenziell überschätzt. Diese Veränderungen finden permanent statt und sind ein endogener Bestandteil der Geburtenentwicklung. Sie werden als Tempoeffekt bezeichnet.

Um ein treffendes Bild über die aktuelle Geburtenentwicklung zu bekommen, sollte die zusammengefasste Geburtenziffer nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den übrigen Fertilitätsindikatoren insbesondere zu altersspezifischen Geburtentrends und zur Kohortenfertilität betrachtet werden. Je nachdem, was man mit einem Indikator abbilden möchte, kann es angebracht sein, den Einfluss des Tempoeffekts herauszurechnen. Seit den 1990er Jahren werden in der demografischen Forschung Ansätze dazu entwickelt. Besondere Verbreitung fand dabei die so genannte tempobereinigte TFR nach Bongaards und Feeney.

Mit einer Tempobereinigung wird angestrebt, die empirisch gemessene Geburtenhäufigkeit eines Kalenderjahres entsprechend der Veränderung im durchschnittlichen Gebäralter anzupassen. Eine solche Schätzung lässt sich jedoch noch schwieriger interpretieren als die konventionelle zusammengefasste Geburtenziffer, die anhand der beobachteten Geburtenzahlen berechnet wird. Die tempobereinigten Kennziffern sind nach Luy reine Perioden-Indikatoren, die sich ebenso wie die zusammengefasste Geburtenziffer auf hypothetische Kohorten beziehen. Sie sind weder Prognosen für die zukünftige endgültige Kinderzahl je Frau eines Jahrgangs noch eine Abschätzung der auf spätere Jahre aufgeschobenen und tatsächlich realisierten Kinderwünsche.
Die Ansätze für eine adäquate Beschreibung der Geburtenneigung der in einer Periode lebenden Frauen werden aktuell weiterentwickelt. Es gibt bis heute noch keine für die amtliche statistische Praxis einsetzbare Methode.